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Magersucht: Ursachen & Risikofaktoren

Die Ursachen einer Magersucht sind vielfältig und nicht auf einzelne Aspekte (z.B. einzelne Risikofaktoren) zurückzuführen. Neben biologischen Einflussfaktoren - wie genetischen Faktoren oder Geburtskomplikationen - spielen auch familiäre, gesellschaftliche und individuelle Einflüsse (z.B. Temperamentsmerkmale) sowie das soziale Umfeld eine Rolle. Es handelt sich um eine komplexe, multifaktorielle Genese.

Biologische Faktoren

Erbliche Faktoren spielen laut Forschungserkenntnissen bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung einer Magersucht eine größere Rolle als bisher angenommen. In einer mit Ess-Störungen belasteten Familie ist das Risiko, an einer Magersucht (oder auch Bulimia nervosa) zu erkranken, erhöht. Auch depressive Erkrankungen und Zwangsstörungen treten in den betroffenen Familien vermehrt auf. Bekannt ist, dass Verwandte 1. Grades von Patienten, die an Anorexia nervosa erkrankt sind, ein 10-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko gegenüber der Normalbevölkerung haben. Grundsätzlich handelt es sich um ein sehr komplexes Phänomen, sodass auch Untersuchungen, die das gesamte menschliche Erbgut einbezogen haben, bisher nicht fündig geworden sind, welche Gene im Einzelnen beteiligt sind. 

Es wird davon ausgegangen, dass neurobiologische Mechanismen - unter anderem eine Fehlregulation von Botenstoffen im Gehirn - Einfluss auf die Krankheitsentstehung und deren Aufrechterhaltung nehmen. Störungen des serotonergen Systems und des Dopaminsystems können beispielsweise einen ungünstigen Einfluss auf die Stimmungslage und Befindlichkeit (Ängstlichkeit, Zwanghaftigkeit, Gehemmtheit), die Impulskontrolle der Betroffenen sowie auf deren Appetitverhalten nehmen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass einzelne Fehlfunktionen des Neurotransmittersystems die Entwicklung einer Essstörung insgesamt erklären.

Im Vergleich zu Gesunden finden sich bei Anorexie-Betroffenen häufiger Geburtskomplikationen und/oder sie kamen als Frühchen (vor der 33. Schwangerschaftswoche) zur Welt.

Persönlichkeitsmerkmale

Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass verschiedene individuelle Merkmale bzw. Temperamentseigenschaften (letztere gelten als hochgradig genetisch bestimmt), die bereits in der Kindheit bestehen, bei der Entwicklung der Störung eine Rolle spielen. Hierzu gehören ängstliche und zwanghafte Züge sowie die Neigung zu Perfektionismus. Dementsprechend haben Untersuchungen gezeigt, dass Betroffene in ihrer Flexibilität eingeschränkt sind. Darüber hinaus zeigen neuere Studien eine Beeinträchtigung ihrer sozialen Wahrnehmung bzw. Kognition.
Viele der Patient(inn)en verhalten sich oft sehr angepasst und bemühen sich, es anderen recht zu machen. Oft besteht ein extremes Harmoniebedürfnis. Sie gehen Konflikten aus dem Weg, sind wenig selbstständig und haben ein niedriges Selbstwertgefühl.

Einflüsse und Ereignisse während der Pubertät bzw. der Adoleszenz

Es besteht die Vermutung, dass wachsende soziale Anforderungen, wie sie in diesem Altersabschnitt üblich sind, das Auftreten der Störung begünstigen können.
Der Übergang vom Kind zum Erwachsenen geht mit biologischen Reifungsschritten einher, die gemeinhin mit dem Begriff Pubertät bezeichnet werden. Diese körperlichen Veränderungen unterliegen der Steuerung durch verschiedene Hormone, die wiederum Einfluss auf das Körperwachstum und die gesamte Entwicklung nehmen. Die psychosozialen Reifungsprozesse bezeichnet man als Adoleszenz. In diesem Alterszeitraum erfahren auch die Hirnfunktionen eine Neustrukturierung, neuronale Netzwerke werden umgebildet, Selektions- und Spezifikationsprozesse im Bereich der einzelnen neuronalen Verbindungen laufen ab.

Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass die Veränderung von Körperbild und Essverhalten u.a. als Reaktion auf pubertäre Veränderungen angesehen werden kann. Die Hungerphase selbst geht mit gravierenden Stoffwechselveränderungen einher, wobei auch neuroendokrine Veränderungen und Veränderungen im Neurotransmittersystem eintreten. Diese Änderungen beeinflussen vermutlich die adoleszenten Entwicklungsprozesse des Gehirns in einer besonders sensiblen (vulnerablen) Phase neuronaler Umbildung und haben möglicherweise Folgen für die Hirnentwicklung. Die vielfältigen körperlichen und psychischen Auswirkungen der Mangelernährung bei Magersucht erschweren es jedoch, zwischen Ursachen und Folgen einer Essstörung eindeutig zu unterscheiden.

Familiäre Faktoren

Als generelles Risiko wird eine Häufung von familiären Konflikten gesehen. Frühere Hypothesen (80er Jahre), wonach ein überbehüteter, konfliktvermeidender und überinvolvierter Erziehungsstil das Auftreten einer Magersucht begünstigt, haben sich nicht weiter erhärtet.

Rückblickende Untersuchungen haben gezeigt, dass frühkindliche Fütterungsprobleme und eine depressive Erkrankung der Mutter als mögliche Risikofaktoren gesehen werden können.

Gesellschaftliche Einflüsse

Die Magersucht ist eine Erkrankung, die offenbar kulturunabhängig auftritt, wobei die Krankheitshäufigkeit in den westlichen Industrienationen größer ist als in nicht-industrialisierten Ländern. Der hohe Stellenwert des Schlankseins in westlichen Kulturen trägt vermutlich dazu bei, dass betroffene Jugendliche versuchen, Gefühle von Wertlosigkeit durch Schlankheit zu kompensieren. Untersuchungen deuten darauf hin, dass auch in den östlichen industrialisierten Regionen Essstörungen in vergleichbarer Häufigkeit, wie in westlichen Industrienationen vorkommen.

Gerade wenn in der Pubertät Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein kaum vorhanden sind, orientieren sich Jugendliche an gesellschaftlichen Idealen – insbesondere auch bezüglich Figur und Aussehen. Dem Druck, schlank sein zu müssen, können Jugendliche mit niedrigem Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein nur schwer Stand halten. Auf der anderen Seite mag auch die Stigmatisierung von „Übergewichtigen“ in der Gesellschaft eine Rolle spielen, die bei manchen Personen die Angst vor dem „zu dick sein“ fördert. Ein deutliches Zeichen für beide genannten Aspekte ist, dass ein bis zwei Drittel aller Teenager in Deutschland bereits Erfahrungen mit Diäten gemacht haben. Mädchen und Frauen unterliegen dem Druck des Schönheitsideals offenbar stärker als ihre männlichen Altersgenossen – möglicherweise eine Erklärung dafür, warum Essstörungen bevorzugt beim weiblichen Geschlecht auftreten. Bei Patienten mit Anorexia nervosa steht jedoch - anders als bei Patienten mit Bulimia nervosa - der Wunsch, einem gängigen Schönheitsideal zu entsprechen, nicht im Vordergrund.

Sexueller Missbrauch

Wie viele Patienten mit psychiatrischen Krankheiten sind auch Magersüchtige häufiger Opfer eines sexuellen Missbrauchs oder körperlicher Misshandlungen als Menschen ohne ein psychisches Leiden. Solche traumatisierenden Erlebnisse gelten aber nicht als typisch für eine Anorexia nervosa.

Körperliche Erkrankungen

Jüngere Untersuchen haben gezeigt, dass der juvenile Diabetes (D. mellitus Typ I) mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko für Essstörungen einhergeht. Betroffene weisen überzufällig häufig ein gestörtes Essverhalten auf. Als mögliche Ursache hierfür diskutieren Experten, dass die ständige Kontrolle des Blutzuckerspiegels, das Auseinandersetzen mit Nahrungsmitteln, Gewicht und körperlicher Aktivität die Entwicklung einer Essstörung  fördern kann.

Als untergewichtsförderndes Verhalten (purging Verhalten) wird hierbei das Verzichten auf bzw. Reduzieren der Insulindosis gesehen, die erkrankungsbedingt verabreicht werden muss. Bei einem Mangel an Insulin steigt der Blutzuckerspiegel. Ab einer bestimmten Konzentration im Blut, wird Zucker (und damit Kalorien) über den Urin ausgeschieden. Dieser Mechanismus kann relativ schnell zur Gewichtsabnahme führen.