Neurologen und Psychiater im Netz

Das Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen

Herausgegeben von den Berufsverbänden für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.

Magersucht: Therapie

Aufgrund des komplexen Zusammenwirkens von körperlichen und psychischen Symptomen ist ein multimodales Behandlungskonzept erforderlich. In der Akutphase stehen die Gewichtszunahme und die Normalisierung der körperlichen Funktionen im Vordergrund. Calcium und Vitamin D werden häufig zur Osteoporose-Vorbeugung verabreicht.

Eine spezifische  medikamentöse Therapie gegen die Magersucht gibt es nicht; in einzelnen Fällen wird sie unterstützend bei bestimmten Symptomen durchgeführt, z.B. bei ausgeprägter körperlicher Unruhe. Manchmal  - aber fast immer erst nach der Gewichtsnormalisierung - ist sie zur Behandlung psychiatrischer Begleiterkrankungen sinnvoll.

Im Zentrum der Behandlung der Magersucht steht die Psychotherapie. Sie soll auch verhindern, dass Betroffene weitere Erkrankungen wie beispielsweise Depressionen oder Angststörungen entwickeln. Wichtige Voraussetzung für den Erfolg psychotherapeutischer Verfahren sind die Bereitschaft der Patienten und deren Mitarbeit über einen mehr oder minder langen Zeitraum. Die Auseinandersetzung mit eigenen problematischen Verhaltensmustern und mit sich selbst ist anstrengend, bietet aber die Chance zur positiven Weiterentwicklung, einer selbstbestimmteren Lebensgestaltung sowie dem Zugewinn von Lebensfreude.

Neben der Psychotherapie können weitere Therapiebausteine Teil der Behandlung sein, wie die Ernährungstherapie, die Körpertherapie und die Kunsttherapie.

Die zentralen Behandlungsziele in der Therapie der Anorexia nervosa sind u.a.:

•    Wiederherstellung eines gesunden Körpergewichts und Rehabilitation der körperlichen Auswirkungen,
•    Verbesserung der Krankheitseinsicht und Förderung der Motivation zur Krankheitsbewältigung
•    Aufklärung und Beratung über gesundes Ernährungs- und Essverhalten
•    Veränderung der Körperwahrnehmung, der Einstellung und der Gefühle in Bezug auf die Essstörung,
•    Bewältigung psychischer Schwierigkeiten
•    Einbeziehung der Familie (Stützung, Aufklärung, Beratung und Therapie)
•    Rückfallverhütung.

Gewichts-Rehabilitation und Ernährungstherapie

Die Behandlung körperlicher Schädigungen sowie die Normalisierung des Gewichts ist ein Schwerpunkt der Therapie. Ziel ist es, mit einer Gewichtszunahme von 0,3 bis 1 kg pro Woche (stationäre Bedingungen) das Gewicht zu erreichen, bei der die Monatsblutung wieder eintritt. Als Zielgewicht wird vielfach die 25. BMI-Perzentile eingesetzt (siehe auch mybmi.de), bei der man davon ausgehen kann, dass die Menstruation wieder einsetzt. Das Gewicht wird in der Regel ein- bis zweimal wöchentlich kontrolliert. Die meisten körperlichen Symptome bilden sich zurück, wenn die Mangel- und Unterernährung beseitigt ist.

Zur Normalisierung des Ess-Verhaltens bieten sich u.a. im Rahmen einer Ernährungstherapie folgende Maßnahmen an:
•    umfassende Beratung über eine ausgewogene Ernährung,
•    die Erstellung eines klar strukturierten Essensplans mit Haupt- und Zwischenmahlzeiten, unter langsamer Einführung kalorienreicher Speisen, die zuvor gemieden wurden,
•    gemeinsames Kochen und „Modell-Essen“ in einer (Betreuungs-)Gruppe.

Psychotherapeutische Verfahren

In Deutschland werden in der Therapie der Essstörungen hauptsächlich zwei Verfahren angewendet: die kognitive Verhaltenstherapie oder die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (auch psychodynamische Therapie). Bei Patienten mit chronischen und tiefgreifenden Problemen, die eine Behandlung über lange Zeit bedürfen (Langzeittherapie), wird die analytische Psychotherapie (Psychoanalyse) angewandt. Wissenschaftlich anerkannt aber noch keine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung ist darüber hinaus die interpersonelle Psychotherapie. Insbesondere bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen spielt die systemische Familientherapie eine wichtige Rolle. Die Einbeziehung der Eltern und Geschwister ist gerade bei jüngeren Betroffenen wichtig und erfolgversprechend. Hier werden mögliche familiäre Probleme durchleuchtet und Lösungsansätze für alle Beteiligten erarbeitet.

Kognitive Verhaltenstherapie: In der Verhaltenstherapie werden psychische Störungen wesentlich als Folge ungünstiger oder belastender Lernerfahrungen gesehen. Weiterhin geht man davon aus, dass problematisches Verhalten im Zusammenhang mit einer psychischen Störungen durch neue Erfahrungen auch wieder verlernt werden kann. In der Verhaltenstherapie geht es darum, sowohl bewusste, als auch unbewusste Lernvorgänge anzuregen und auf diese Weise problematisches Verhalten bzw. psychische Symptome zu verringern oder zu beseitigen. Die Verhaltenstherapie bei Essstörungen ist an den Symptomen orientiert und setzt konkret an problematischen Verhaltensweisen – wie fehlender Mahlzeitenstruktur, ritualisierter Nahrungsaufnahme, Weglassen bestimmter Lebensmittel – an. Das Erlernen eines normalen Essverhaltens wird dabei unterstützend mit Essprotokollen und strukturierten Essensplänen eingeübt. Im Rahmen der Verhaltenstherapie werden auch die zentrale Bedeutung von Gewicht und Figur für das Selbsterleben sowie weitere persönliche Motive der Magersucht hinterfragt, mit dem Ziel, die Einstellung der Patienten und die gestörte Selbstwahrnehmung zu verändern. Ziel ist es vor allem, das Selbstwertgefühl des Patienten, seine Konfliktfähigkeit und auch die soziale Kompetenz zu steigern.

Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Eine Essstörung wird in diesem Verfahren als Ausdruck und Lösungsversuch innerer psychischer und zwischenmenschlicher Konflikte gesehen, die sich vor dem Hintergrund der lebensgeschichtliche Erfahrungen entwickelt haben. Das Verständnis für diese Konflikte und die ihnen zugrunde liegenden Lebenserfahrungen stellt die Grundlage dar, um für sie andere sinnvollere und gesündere Lösungsmöglichkeiten zu finden. Im Therapieverlauf spiegeln sich lebensgeschichtliche Erfahrungen auch immer in der therapeutischen Situation und Beziehung. So können sie gemeinsam mit dem Therapeuten verstanden und bearbeitet werden. Dadurch werden neue und heilsame Erfahrungen innerhalb und außerhalb der therapeutischen Situation möglich, so dass letztendlich das Symptom, die Essstörung, nicht mehr als - scheinbare - Lösung für innere Konflikte benötigt wird.

Analytische Psychotherapie: Dieses Verfahren kann sich über mehrere Jahre erstrecken und hat eine umfassende, heilsame Veränderung der Persönlichkeit zum Ziel.

Interpersonelle Psychotherapie: Dieses Verfahren betrachtet zwischenmenschliche Konflikte und beschäftigt sich mit konkreten Verbesserungen des gegenwärtigen Lebens, z.B. mit zwischenmenschlichen Konflikten oder mit Problemen beim Übergang in eine neue soziale Rolle – wie vom Kind zum Erwachsenen oder von der Schule zur Berufstätigkeit.

Systemische Familientherapie: Die Einbeziehung der Eltern und Geschwister in die Therapie ist gerade bei jüngeren Betroffenen wichtig und erfolgversprechend. Hier werden mögliche familiäre Probleme durchleuchtet und Lösungsansätze für alle Beteiligten erarbeitet. Eine Veränderung der Familiendynamik vermag zu positiven Veränderungen bei den Patienten führen, doch auch die Angehörigen können von der Familientherapie profitieren. Dadurch können beispielsweise Schuldgefühle gemildert werden, unter denen Eltern sehr leiden können.

Therapiebedingungen & Behandlungsdauer

Angesichts der krankheitsbedingten Verleugnungen müssen die Therapiebedingungen klar formuliert und kontrolliert werden. Um eine dauerhafte Heilung zu ermöglichen, ist nach der Akutbehandlung bzw. der Klinikentlassung (meist nach 6 Wochen bis 3 Monaten, je nach Schweregrad) die Weiterführung einer ambulanten Psychotherapie sehr wichtig. Auch die Teilnahme an Selbsthilfegruppen ist empfehlenswert.

Bei lebensgefährlichem Untergewicht, rapidem Gewichtsverlust, schweren körperlichen Komplikationen, schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen sowie Selbstmord- oder starker Selbstverletzungsgefahr kann - auch gegen den Willen des Patienten - eine stationäre Aufnahme erfolgen.