Neurologen und Psychiater im Netz

Das Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen

Herausgegeben von den Berufsverbänden für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.

Magersucht: Auswirkungen

Eine Magersucht hat unter Umständen erhebliche gesundheitliche Folgen (u.U. „biologische Narben“), die sich organisch manifestieren und/oder in psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen äußern können. Inwieweit diese Schädigungen nach der Heilung reversibel sind, kann die Wissenschaft im Einzelnen noch nicht beantworten. Durch eine möglichst frühzeitige Therapie können negative Auswirkungen jedoch begrenzt und behandelt werden.

Folgen für die körperliche Entwicklung

Durch die Mangelernährung kann die pubertäre Reifung zum Erliegen kommen. Ist dieser Zustand längerfristig, kann die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale unzureichend sein (fehlende Brustentwicklung bei Mädchen, keine Genitalreifung bei Jungen) sowie Kleinwuchs auftreten. 

Mädchen und junge Frauen, deren Menarche bereits eingesetzt hat, bekommen im Zustand des Hungerns eine (sekundäre) Amenorrhö, d.h. ihre Regelblutung bleibt aus und sie sind in dieser Zeit unfruchtbar. Bei Gewichtszunahme ist dieser Zustand in der Regel reversibel. Liegt der Erkrankungsbeginn vor der Pubertät, kann das Untergewicht zu einer Verzögerung pubertärer Entwicklungsschritte führen und eine primäre Amenorrhö zufolge haben, d.h. es kommt zu keinem normalen Menstruationszyklus. Magersüchtige männliche Jugendliche können einen Potenzverlust erleben.

Der durch hormonelle Störungen ausgelöste Östrogenmangel kann zusammen mit einem Mineralstoff- und Vitaminmangel sowie anderen Hormonveränderungen (hohe Cortisolspiegel) zu einer krankhaften Knochenbrüchigkeit (Osteoporose) im Erwachsenenalter führen. Das Jugendalter ist für den Erwerb der maximalen Knochenmasse entscheidend. Mit zunehmendem Erkrankungsverlauf verringert sich die Knochendichte gegenüber gesunden Personen. Tritt eine Normalisierung von Gewicht und Menstruationszyklus ein, kommt es zu einem Zuwachs an Knochendichte, wobei bei langfristigem Untergewicht  häufig keine völlige Normalisierung der Knochenstruktur erreicht wird.

Weitere körperliche Symptome

Die Patienten leiden vielfach unter weiteren Beschwerden wie chronischer Verstopfung und ständigem Frieren. Häufige Begleiterscheinungen sind auch eine niedrige Pulsfrequenz und niedriger Blutdruck. Viele Betroffene weisen aufgrund des Mineralstoffmangels eine trockene, schuppige Haut auf und haben Haarausfall. Als besonderes Merkmal ist in manchen Fällen die Entwicklung einer feinen Körperbehaarung (Lanugo) zu erkennen.

Chronische Unterernährung kann unter Umständen noch andere schwerwiegende körperliche Schäden verursachen. Als Folge der Gewichtsabnahme werden wichtige Körpereiweiße, z.B. in der Muskulatur und auch im Herzmuskel, abgebaut. Es können gefährliche Komplikationen wie Muskelschwäche, Herzbeutelerguss, lebensgefährliche Herzrhythmus-Störungen und ein Ungleichgewicht des Wasser- und Mineralien-Haushalts (Flüssigkeits- und Elektrolytstörungen) auftreten.

Ein starkes Untergewicht kann im schlimmsten Fall akute lebensbedrohliche Folgen haben, es kann zu einem Versagen der lebenswichtigen Organe wie Leber, Niere, Herz, kommen. Je rasanter die Gewichtsabnahme erfolgt ist, desto gravierender sind meist die körperlichen Komplikationen.

Folgen für die Hirnentwicklung

Die Folgen einer längerfristigen unzureichenden Ernährungs- und Energielage manifestieren sich auch im Gehirn. Nachgewiesen werden konnte ein Verlust an kortikaler Substanz, wobei die graue Substanz um 5 – 20% reduziert sein kann. Bislang ist noch unklar, welchen Effekt die erkrankungsbedingte Reduktion der grauen Hirnmasse hat und inwieweit sich die Hirnsubstanz nach der Heilung quantitativ und qualitativ der einer gesunden Person wieder anzugleichen vermag.

Neuropsychologische Folgen

Über den Akutzustand der Erkrankung hinaus sind bei vielen Betroffenen Störungen im Bereich der selektiven Aufmerksamkeit vorhanden. So richtet sich ein Großteil der selektiven Aufmerksamkeit auf figur-, gewichts- und nahrungsbezogene Reize, was zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen kann und zu Ungunsten der „kognitiven Flexibilität“ verläuft. Unter Kognitiver Flexibilität versteht man in diesem Zusammenhang die Fähigkeit, zwischen verschiedenen konkreten Handlungen (Operationen) und Verhaltensmustern (Regelmustern) zu wechseln.

Psychische Begleit- und Folgeerkrankungen

Mindestens 10 – 20 % der Betroffenen entwickeln im Verlauf der Erkrankung eine Bulimia nervosa.  Auch Angststörungen (insbesondere die Soziale Phobie, von der 20 – 55% aller anorektischen Patientinnen betroffen sind), Depressionen, Persönlichkeitsstörungen und Substanzmittelmissbrauch treten gehäuft auf, die ebenfalls behandelt werden müssen. Nicht abschließend geklärt ist, in welchem Umfang diese Erkrankungen als Folgen der Mangelernährung gesehen werden müssen bzw. inwieweit sie vor oder nach dem Erkrankungsbeginn der Essstörung auftreten.

Im Erwachsenenalter treten nach Pubertätsmagersucht vermehrt Angststörungen (insbesondere die Soziale Phobie) und affektive Störungen auf sowie auch Persönlichkeitsstörungen (ängstlich-vermeidende und zwanghafte Störungen).