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Herausgegeben von den Berufsverbänden für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland.

Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten sichtbarer und selbstverständlicher werden lassen

Um Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten vor psychischen Belastungen zu schützen, wäre es grundsätzlich wünschenswert, die Vielfalt der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentitäten sichtbarer und vor allem selbstverständlicher werden zu lassen.

Heterosexualität ist keine Norm, sondern eine Form von Sexualität wie andere sexuelle Orientierungen auch. Dennoch ist unsere Gesellschaft nicht von der Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, sondern von heterosexuellen Normvorstellungen geprägt. Obwohl sich die Lebenssituation von Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten in Deutschland in den vergangenen Jahren gebessert hat, werden Personen mit homo- oder bisexuellen Orientierungen überdurchschnittlich häufig in der Öffentlichkeit sowie in Bereichen der Freizeit aber auch in der Ausbildung oder am Arbeitsplatz diskriminiert. Direkt oder indirekt erfahrene Diskriminierung geht dabei mit einem höheren Risiko für psychische Erkrankungen einher. „Homo- und bisexuelle sowie inter- oder transsexuelle Menschen müssen im Vergleich zu heterosexuellen Personen bei der Entwicklung der eigenen sexuellen Identität wesentlich mehr «Identitätsarbeit» leisten. Sie leben in einem Umfeld, das typische Rollenbilder entwickelt hat und von heterosexuellen Normvorstellungen geprägt ist. Gleichzeitig müssen sie sich oft mit Diskriminierung und Feindseligkeiten auseinandersetzen, was psychische Belastungen zur Folge haben kann“, berichtet Prof. Götz Mundle vom Referat für sexuelle Orientierungen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. „Dass sich ein heterosexueller Mensch Sorgen um seine sexuelle Orientierung macht, dürfte eher eine Ausnahme sein, was die besondere Belastungssituation von Menschen mit anderen sexuellen Orientierungen veranschaulicht.“ Die Entwicklung der eigenen sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität verläuft individuell unterschiedlich. Manche wissen sehr frühzeitig, dass sie heterosexuell, lesbisch oder schwul sind. Für andere ist es ein Prozess, der über einen längeren Zeitraum «Identitätsarbeit» abverlangt, bis sie wissen, zu welchem Geschlecht sie sich hingezogen fühlen und wie sie ihr eigene Geschlechtsidentität und Sexualität leben wollen.

Langandauernde Belastungsfaktoren gefährden psychische Gesundheit

Es sind nicht die unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen an sich, die dazu führen, dass Menschen psychische Probleme entwickeln. Insgesamt sind es die lang andauernden Belastungsfaktoren, die das Lebensgefühl dieser Personen bestimmen und ihr Risiko für eine schlechtere psychische Verfassung erhöhen. „Homo- oder Bisexualität sind gesunde sexuelle Orientierungen, die keiner Therapie bedürfen. Es sind vielmehr die eigenen Ängste und Erfahrungen mit den Reaktionen des Umfeldes aber auch der Familie und der gesellschaftlichen Bewertung, die Konflikte und Selbstzweifel auslösen können“, illustriert der Experte der DGPPN. „Denn je geringer die soziale Akzeptanz und Einbindung von Menschen ist, desto größer sind in der Regel die Selbstzweifel und desto tiefer können persönliche Krisen gehen. In der Folge können sich Depressionen und Angsterkrankungen sowie Suchterkrankungen bis hin zur Suizidalität entwickeln.“ Besonders belastend ist, dass Betroffene manchmal negative gesellschaftliche oder auch familiäre Ansichten über Homosexualität verinnerlichen, was dann in einem schmerzlichen Widerspruch zur eigenen Identität steht.

Wissen über das Spektrum von Geschlechtsidentitäten bewahrt Menschen davor, Vorurteile zu entwickeln und schützt vor Stigmatisierung

Um Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten vor psychischen Belastungen zu schützen, wäre es grundsätzlich wünschenswert, die Vielfalt der sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentitäten sichtbarer und vor allem selbstverständlicher werden zu lassen. Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, bei amtlichen Angaben auf ein ausschließlich binäres Geschlechtsmodell zu verzichten, ist ein richtiger Schritt in diese Richtung. Dem Gericht zufolge schützt das allgemeine Persönlichkeitsrecht die geschlechtliche Identität auch jener Personen, die sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen lassen oder wollen. Menschen sind damit nicht länger verpflichtet, sich etwas zuordnen zu müssen, das dem eigenen Identitätsempfinden nicht entspricht. „Dadurch entsteht eine wichtige Chancengleichheit für alle Menschen, ihr eigenes Identitätsempfinden in unserer Gesellschaft wahrnehmen und leben zu können“, betont Prof. Mundle. „Neben Verständnis und Akzeptanz braucht es auch Aufklärung über die Vielfalt der naturgegebenen Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen, um Menschen, die nicht in das typische Rollenbild passen, in die Gesellschaft zu integrieren und ihnen ihren zustehenden Platz einzuräumen.“

Die DGPPN fühlt sich mit der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16 - Rn. (1-69)) verbunden. Die Fachgesellschaft setzt sich auch aktiv mit dem eigens gegründeten Fachreferat „Sexuelle Orientierungen und Identitäten in Psychiatrie und Psychotherapie“ für die Förderungen wissenschaftlicher Erkenntnisse sowie für die Aufklärung ein, welche die Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten in Wissenschaft und Öffentlichkeit sichtbarer werden lässt.

Quellen:
Studie im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Einstellungen gegenüber Lesben, Schwulen und Bisexuellen in Deutschland Ergebnisse einer bevölkerungsrepräsentativen Umfrage, Januar 2017

BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. Oktober 2017 - 1 BvR 2019/16 - Rn. (1-69)

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