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Schweiz: Verschäfte Rechtssprechung zur Invalidenrente bei depressiver Erkrankung - Eine Standortbestimmung aus medizinischer Sicht

Psychische Erkrankungen können sich ungünstig auf die Leistungsfähigkeit von betroffenen Personen auswirken und zu Einschränkungen der beruflichen Teilhabe führen. Das Schweizer Bundesgericht hat mit seiner jüngeren Entscheidung den Zugang zu Invalidenrente bei bestimmten depressiven Erkrankungen verschärft. Eine Gruppe von Experten nimmt zu der Rechtsprechung aus medizinischer Sicht Stellung, erläutert notwendiges Hintergrundwissen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz und stellt Gutachtern und Rechtsanwendern, die über eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit entscheiden müssen, eine handwerkliche Hilfestellung zur Verfügung.

Hintergrund

Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung von 2017 sollen Depressionen nur dann als „invalidisierende“ gesundheitliche Beeinträchtigung befundet werden, wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. Ein Anspruch auf Invalidenrente (IV-Rente) kann demnach nur dann abgeleitet werden, wenn die psychische Erkrankung als «therapieresistent» eingeschätzt wird. Die betroffenen Menschen müssen diesen Beweis selbst erbringen, bevor sie eine IV-Rente erhalten. Zudem legt das Bundesgericht dar, dass es sich hierbei um seltene Konstellationen handelt, wenn bei Depressionen mit leichter oder mittelschwerer Ausprägung eine «Therapieresistenz» bestehe.

Der Nachweis von «Therapieresistenz» ist jedoch gerade bei psychischen Erkrankungen sehr schwer zu erbringen – auch weil sich unterschiedliche therapeutische Interventionen über Jahre und Jahrzehnte erstrecken können und nicht immer zu den erstattungsfähigen Krankenkassenleistungen gehören. Für depressive Menschen, die ihrer Arbeit nicht mehr oder nur noch eingeschränkt nachgehen können, ist diese Situation problematisch. In der Schweiz sind episodisch wiederkehrende depressive Störungen sehr häufige psychische Erkrankungen. In der Praxis erhalten Menschen mit mittelschweren Depressionen hier offenbar kaum mehr Unterstützung durch die Invalidenversicherung.

Vor diesem Hintergrund haben Experten um Prof. Dr. med. Michael Liebrenz vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern ein Standort-Papier verfasst, dass den „Begriff der Therapieresistenz bei unipolaren depressiven Störungen aus medizinischer und rechtlicher Sicht“ betrachtet. Die Expertengruppe veranschaulicht auf Basis der Studienlage zu depressiven Erkrankungen, den geltenden Behandlungsempfehlungen aber auch den obligatorischen Krankenkassenleistungen in der Schweiz, wann man von einer therapieresistenten Depression sprechen kann. Zudem schlagen sie vor, wie man den Begriff der Therapieresistenz in diesem Zusammenhang aus medizinischer sowie auch juristischer Sicht sinnvoll definieren könnte. Die Stellungnahme soll gleichzeitig eine handwerkliche Grundlage und Hilfestellung für die Rentenanspruchsprüfung sein.

Zusammenfassung

Die Autoren legen dar, das depressive Störungen als eine der wichtigsten Ursachen für Invalidität weltweit gelten. Depressionen treten typischerweise episodisch auf und beeinträchtigen Betroffene - neben den vielfältigen erkrankungstypischen Symptomen (Niedergeschlagenheit, Freudlosigkeit, Hoffnungslosigkeit etc.) - häufig auch in ihrer Leistungsfähigkeit. In der Schweiz sind episodisch wiederkehrende depressive Störungen sehr häufige psychische Erkrankungen.

In der Mehrheit der Fälle verlaufen depressive Episoden, adäquat behandelt, günstig, d.h., es kommt zu einer vollständigen Remission oder mindestens einer Teilremission innerhalb von wenigen Monaten.

Mindestens zweijähriger Erkrankungsverlauf ist ein anerkanntes Kriterium für Chronizität

Ein relevanter Teil der depressiven Störungen von ca. 20 Prozent nimmt jedoch nicht nur unbehandelt, sondern auch unter geltenden Behandlungsempfehlungen einen chronischen Verlauf. Solche - als chronisch zu betrachtende - Erkrankungsverläufe dauern länger als zwei Jahre, gehen mit erheblichen psychosozialen Einschränkungen bzw. Einschränkungen des Funktionsniveaus einher und haben eine schlechtere Prognose. Um eben diese Krankheitsverläufe handelt es sich in vielen Fällen, in denen eine Rentenanspruchsprüfung bei depressiven Störungen erfolgt. Aus medizinischer Sicht kann dabei mehrheitlich nicht von einer günstigen Prognose ausgegangen werden. Das Ansprechen auf eine Therapie ist bei chronischen Depressionen schlechter als bei anderen Depressionsformen, wobei in mindestens 40 Prozent der Fälle die Kriterien für eine Therapieresistenz erfüllt sind.

Therapieresistenz – eine auf «Standardtherapieverfahren» nicht ansprechende Depression

Neben diesen, aufgrund ihres zeitlichen Verlaufs als chronisch zu betrachtenden Depressionen, muss in weiteren Fällen von einem besonders ungünstigen Krankheitsverlauf mit verschiedentlich ausgeprägten psychosozialen Einschränkungen und geringem Verbesserungspotential ausgegangen werden. Es ist zu berücksichtigen, dass eine Therapieresistenz nicht eine «theoretisch unbehandelbare depressive Störung» beschreibt, sondern eine «auf Standardtherapieverfahren nicht ansprechende Depression».

Die zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfügbaren Erkenntnisse zeigen, dass mehrjährig andauernde chronische depressive Verläufe nach einer bestimmten Anzahl von adäquaten Behandlungsversuchen bzw. Standardtherapieverfahren therapeutisch kaum noch zu bearbeiten sind. Von solch ungünstigen Krankheitsverläufen mit besonders schlechter Prognose muss nach medizinischen Erkenntnissen dann ausgegangen werden, wenn drei bis vier adäquate Behandlungsversuche - also Therapieversuche mit (Leitlinien-)empfohlenen Standardtherapieverfahren - gescheitert sind. Grundlage dieses Standpunktes ist zum einen eine Studie, welche die Wirksamkeit von verschiedenen nacheinander angewandten Standardverfahren (medikamentöse Strategien und psychotherapeutische Verfahren, z.B. kognitive Verhaltenstherapie) über mehrere Behandlungsstufen betrachtet hat (STAR*D-Studie). Zum anderen wurde ein Konzept berücksichtigt, welches die Beurteilung von Leistungsfähigkeit und Prognoseabschätzung durch das Betrachten von Reserven bei Erkrankten erlaubt, die durch therapeutische Mittel ausgeschöpft werden können (Konzept der Reservekapazität nach Michael Linden).

Nur ein Teil der Therapiemöglichkeiten sind Standardverfahren

Die Autoren betonen, dass der individuelle Therapieverlauf selbst bei leitlinienkonformer Behandlung sehr unterschiedlich verlaufen kann. Zudem kann er durch die Erfahrungen sowie den psychotherapeutischen Hintergrund des Behandlers aber auch die Präferenzen des Patienten sowie psychiatrische Begleiterkrankungen beeinflusst und verlängert werden.

Zu den Standardverfahren, die zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden und von der obligatorischen Krankenversicherung in der Schweiz übernommen werden, zählen in der Regel nur die Pharmako- und die Psychotherapie. Psychotherapien basieren dabei auf unterschiedlichen Ansätzen und auch Zeitintervallen (z.T. mehrjährige Therapiezeiträume). Für medikamentöse Therapien stehen diverse Psychopharmaka zur Verfügung sowie auch Psychopharmaka-Kombinationen, angewendet werden können. Daneben existieren weitere Verfahren wie, z.B. Elektrokrampftherapie, Hirnstimulationen, Ketamintherapie, Neurofeedback etc..

Theoretisch könnten also bei ungünstigen Krankheitsverläufen diverse und sehr zeitintensive Behandlungsoptionen eingesetzt werden, wobei unter Berücksichtigung der oben genannten Erkenntnisse weiterhin von einer schlechten Prognose auszugehen ist. Nach Experteneinschätzung ist Ausschöpfung aller potenziell verfügbaren Therapieoptionen bei einem Patienten vor Bewilligung von Rentenleistungen kaum praktikabel. Sie würde unter Umständen mehrere Jahre bzw. Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Auch würde ein medizinischer Gutachter in der Mehrzahl der Fälle noch einen weiteren Ansatz empfehlen können und davon absehen, dass ein „austherapierter“ Zustand vorliegt.

Die zum gegenwärtigen Zeitpunkt verfügbare, recht breite wissenschaftliche Evidenz zeigt dagegen, dass mehrjährig andauernde chronische depressive Verläufe mit drei bis vier durchlaufenen adäquaten und dennoch nicht erfolgreichen Behandlungsversuchen eine schlechte Prognose haben und therapeutisch kaum noch zu bearbeiten sind.

Daneben betonen die Autoren, dass die Vorgaben des Bundesgerichtes nur für kurze depressive Episoden gelten können, die nach einigen Monaten abklingen, sowie für wiederkehrende depressive Episoden, die durch hinreichend lange symptomfreie Phasen unterbrochen werden.

Empfehlungen zu Herangehensweise aus medizinischer Sicht

Aus Sicht der Expertengruppe sollte die Beurteilung von Chronizität und Therapieresistenz dem involvierten Mediziner überlassen werden, wenn diese auf reliablen Kriterien und unter Berücksichtigung der Schweizer Behandlungsempfehlungen erfolgt und entsprechend dokumentiert wird.

Im Rahmen der psychiatrischen Beurteilung der Chronizität und der Therapieresistenz durch medizinische Gutachter sollen folgende Fragen nachvollziehbar für den Rechtsanwender erläutert werden:

Stellungnahme zur Therapieresistenz im Rahmen der Begutachtung

A    Dauert die aktuelle depressive Symptomatik > 24 Monate ohne Remission (Rückbildung)
Dauer von > 24 Monaten entspricht einem chronischen Verlauf der unipolaren depressiven Störung
   
B    Erfolgte die bisherige Therapie evidenzbasiert, z.B. in Anlehnung an die Schweizer Behandlungsempfehlungen?
Die Beurteilung sollte begründet sein und beispielsweise Verweise auf die geltenden Behandlungsempfehlungen/Leitlinien enthalten

C    Können weiter evidenzbasierte Therapiestrategien empfohlen werden?
Die Empfehlung sollte begründet sein und beispielsweise Verweise auf die geltenden Behandlungsempfehlungen/Leitlinien enthalten. In begründeten Fällen muss die Therapie individualisiert werden und es kann von Leitlinien abgewichen werden.

D    Ist bei adäquater und leitliniengemässer Therapie eine vollständige Remission kurz- bis mittelfristig zu erwarten?
In der Regel muss davon ausgegangen werden, dass bei einer Dauer von > 24 Monaten und mehreren durchgeführten, jedoch erfolglosen adäquaten Behandlungsversuchen die sozio-medizinische Prognose ungünstig ist.

Durch eine solche Vorgehensweise würden aktuelle medizinische Erkenntnisse aufgenommen und im Rahmen der IV-rechtlichen Abklärung berücksichtigt. Ebenso würde berücksichtigt, dass die Person, welche den Rentenantrag stellt, die ihr zumutbaren Schritte unternimmt, um das ihr mögliche dazu beizutragen, die gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu verringern.

Weitere Informationen:
SRF-Informationssendung «10vor10» vom 6.9.2017: Beitrag „Psychiater kritisieren das Bundesgericht“ 

Quelle:
Artikel: Der Begriff der Therapieresistenz bei unipolaren depressiven Störungen aus medizinischer und rechtlicher Sicht – eine Standortbestimmung im Nachgang zu BGE 9C_13/2016; Roman Schleifer et. al; HAVE/REAS 3/2017