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Exzessives Sporttreiben bei Essstörungen wird zum Umgang mit negativen Gefühlen eingesetzt

Übermäßiges, exzessives und zwanghaftes Sporttreiben ist sehr schädlich für die Gesundheit, besonders ausgeprägt ist dies bei Personen, die unter Essstörungen leiden.

Übermäßiges, exzessives und zwanghaftes Sporttreiben ist sehr schädlich für die Gesundheit, besonders ausgeprägt ist dies bei Personen, die unter Essstörungen leiden. Anhand elektronischer Tagebücher hat ein Forschungsteam des KIT und der Universität Freiburg nun erstmals psychologische Alltagsmechanismen aufgedeckt, die diesem pathologischen Sporttreiben zugrunde liegen. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass essgestörte Personen Sport dazu nutzen, bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren. Die aktuelle Studie ist in der Zeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics veröffentlicht (DOI: 10.1159/000504061).

Unbestritten ist, dass Sport die Gesundheit fördert. Wird Sport jedoch exzessiv und zwanghaft betrieben und im Extremfall zur „Sportsucht“, kann dies krank machen. Dieses ungesunde Sporttreiben ist nachweislich besonders ausgeprägt bei Personen, die unter Essstörungen leiden. Ein Forschungsteam am Institut für Sport und Sportwissenschaft (IfSS) des KIT und der Universität Freiburg konnte nun erstmals psychologische Alltagsmechanismen aufdecken, die diesem pathologischen Sporttreiben zugrunde liegen. Die Methode, die diese Studie möglich machte, heißt Ambulantes Assessment. Sie erfasst menschliches Erleben und Verhalten im Alltag und wurde von einer Expertengruppe am IfSS entwickelt und eingesetzt. „Der Kerngedanke ist, dass wir die Spezies Mensch in ihrem natürlichen Lebensumfeld untersuchen müssen, um menschliches Verhalten verstehen zu können“, sagt Professor Ulrich Ebner-Priemer, Leiter des Mental mHealth Labs am KIT.

In der vorliegenden Studie wurden spezifisch entwickelte aktivitäts-getriggerte elektronische Tagebücher auf Smartphones eingesetzt. „Mit diesen elektronischen Tagebüchern konnten wir das dynamische Wechselspiel von körperlicher Aktivität und psychologischen Variablen im Alltag untersuchen“, erläutert Markus Reichert, der am KIT in der Arbeitsgruppe von Professor Ebner-Priemer forscht und zusammen mit Dr. Sabine Schlegel von der Universität Freiburg einer der beiden Erstautoren der Studie ist. „Dank dieser Technologie war es möglich, subjektive Selbstberichte bei auffälligen Bewegungsepisoden gezielt anzufordern und so eine hohe statistische Varianz der Daten zu generieren.“

Die Ergebnisse, die das Autorenteam in der Fachzeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics veröffentlicht hat, lassen den Schluss zu, dass Patientinnen mit Essstörungen das Sporttreiben dazu nutzen, um bedrückende Stimmungslagen und negative essstörungsbezogene Gedanken zu regulieren. „Um mit schwierigen emotionalen Zuständen und negativem Körpererleben umzugehen, treiben sie Sport, vermutlich auch mangels fehlender alternativer Strategien in solchen Momenten“, erläutert Markus Reichert. „Naheliegend ist auch, dass die positiven Effekte des Sporttreibens das ungesunde Sporttreiben verstärken – sich nach dem Sport befreit zu fühlen, führt zu erneutem Sportreiben, wenn die Wirkung wieder abklingt. Dies kann dann in einen Teufelskreis hineinführen, in welchem immer mehr Sport getrieben werden ‚muss‘ um sich gut zu fühlen“, resümieren Markus Reichert und Professorin Almut Zeeck, Koordinatorin der Sudie am Universitätsklinikum Freiburg.

Laut Zeeck liefern diese Erkenntnisse wichtige Implikationen für die Therapie und weitere Forschung. So könnte Sport in der Therapie gezielt und dosiert eingesetzt werden, um die Stimmung und das Körpererleben essgestörter Menschen positiv zu beeinflussen. Von zentraler Bedeutung sei es jedoch, den Patientinnen und Patienten alternative Handlungsstrategien zu vermitteln, um ungesundes, übermäßiges Sporttreiben zu verhindern. Hier könnten neueste Technologien, wie beispielsweise Alltagsintervention auf Smartphones helfen. „Damit eröffnen sich neue Perspektiven für therapeutische Interventionen, die Patientinnen und Patienten in ihrem Alltag erreichen und eine wichtige Ergänzung zu einer ambulanten Psychotherapie darstellen können“, so Zeeck.

Originalpublikation:
Markus Reichert, Sabine Schlegel, Friederike Jagau, Irina Timm, Lena Wieland, Ulrich Ebner-Priemer, Armin Hartmann and Almut Zeeck: Mood and Dysfunctional Cognitions Constitute Within-Subject Antecedents and Consequences of Exercise in Eating Disorders. Physotherapy and Psychosomatics. DOI: 10.1159/000504061.

Quelle: Karlsruher Institut für Technologie auf idw