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Wie die Architektur der Hirnrinde entsteht

Wie die Steuerung der frühen Gehirnentwicklung erfolgt, dass Nervenzellen zu ihrem Bestimmungsort wandern und sich dort neu auszurichten, haben Wissenschaftler der Berliner Charité herausgefunden.

Um die Schichtstruktur der Hirnrinde aufzubauen, wandern Nervenzellen nach einem fein regulierten Muster zu ihrem Bestimmungsort. Einem Forschungsteam der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist es nun gelungen, die zugrunde liegenden molekularen und zellulären Mechanismen im Detail nachzuvollziehen (siehe Science Advances, Online-Veröffentlichung am 2.7.2021). Dabei kommt es auf die genaue zeitliche Abfolge von zwei Schlüsselprozessen an, die durch dasselbe Regulatorprotein gesteuert werden. Es sorgt dafür, dass Nervenzellen im geeigneten Moment ihre Wanderung starten, um sich dann in der erreichten Schicht neu auszurichten.

Die Hirnrinde – der sogenannte Neokortex – ist der äußerste Bereich des Gehirns, der für die kognitiven Funktionen wie Sprache, Entscheidungen und Willkürmotorik zuständig ist. Hier sind die Nervenzellen (Neuronen) exakt angeordnet: Innerhalb der sechs Schichten mit unterschiedlichen Funktionen liegen die Neuronen mit ihren verzweigten Fortsätzen – dem dendritischen Baum – genau parallel zueinander. Um diese Schichtung der Hirnrinde auszubilden, wandern aus Stammzellen entstandene Nervenzellen vom Ursprungsort nahe des sogenannten Ventrikelsystems zum jeweiligen Bestimmungsort. „Die Struktur des Neokortexes bedingt seine Funktion. Man kann sich die Hirnrinde wie einen Computerchip vorstellen: Jeder Bestandteil hat seinen präzisen Platz. Damit die Nervenzellen zu ihrem endgültigen Bestimmungsort gelangen, ist eine fein abgestimmte Abfolge zellulärer Prozesse nötig. Wenn diese Abläufe jedoch gestört sind, führt das zu kognitiven Einschränkungen und neurologischen Erkrankungen , erklärt Dr. Marta Rosário, die als korrespondierende Letztautorin der Studie mit ihrem Team vom Institut für Zell- und Neurobiologie der Charité nun aufgeklärt hat, welche Faktoren und Mechanismen dabei eine Rolle spielen.

„Wir haben herausgefunden, dass die Schichtstruktur nur ausgebildet wird, wenn die neu entstandenen Neuronen rechtzeitig ihre Wanderung zum Bestimmungsort beginnen können. Wie wir erstmals zeigen konnten, müssen sie sich nach der Ankunft erneut organisieren, um ihre Fortsätze – die Dendriten – in Richtung der Hirnhäute aussenden und Kontakte herstellen zu können“, berichtet Dr. Rosário. „Nur durch diese beiden Schlüsselprozesse können sich die Neuronen senkrecht zur Hirnoberfläche und parallel zueinander ausrichten.“

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten im Mausmodell nachweisen, dass das Regulatorprotein Zeb2 für die Steuerung beider Prozesse verantwortlich ist. Um ihre Wanderung im richtigen Moment beginnen zu können, müssen sich die Nervenzellen zunächst von ihrer ursprünglichen Umgebung lösen, wo sie an der umliegenden Substanz – der sogenannten extrazellulären Matrix – fest verankert sind. Zeb2 sorgt dafür, dass weniger von dem Oberflächenprotein Neuropilin-1 produziert wird, welches für diese Verankerung zuständig ist. Damit sich die Nervenzellen nach ihrer Ankunft in der Hirnrinde korrekt umorientieren können, kontrolliert Zeb2 außerdem mittels eines weiteren Oberflächenproteins, Cadherin-6, das Gleichgewicht von Kontakten zwischen den Zellen. Somit zügelt das Regulatorprotein gleich zwei entscheidende Signalwege, die für den Kontakt der Zellen mit ihrer Umgebung verantwortlich sind.

Eine wichtige Rolle spielen Mutationen von Zeb2 bei einer seltenen Erbkrankheit, dem Mowat-Wilson-Syndrom, die mit einer fehlerhaften Entwicklung und Funktion des Gehirns sowie organversorgender Nerven einhergeht. Prof. Dr. Victor Tarabykin, Direktor des Instituts für Zell- und Neurobiologie und ebenfalls Letztautor der Studie, resümiert: „Mit unseren neuen Erkenntnissen zu den zwei Schritten in der Entwicklung der Hirnrinde verstehen wir nun besser, welche Zelldefekte solchen Funktionsstörungen des Gehirns zugrunde liegen könnten – aber auch anderen neuropsychiatrischen Störungen wie Autismus oder Schizophrenie, bei denen ähnliche Fehlentwicklungen auftreten.“ Das Forschungsteam von Dr. Rosário versucht aktuell herauszufinden, welche Rolle in diesen Schritten die Interaktion der Nervenzellen mit der sogenannten extrazellulären Matrix in ihrer Umgebung spielt.

Quelle: Charité – Universitätsmedizin Berlin