Bei manchen Menschen können psychische Ursachen bei ihnen zu einem lästigen Dauerschwindel führen, der sie nicht zur Ruhe kommen lässt. Dauerschwindel ist eine extreme Belastung für die Betroffenen. In Schwindelambulanzen gehen Mediziner bei tausenden Patienten den Ursachen auf den Grund. Dabei zeigt sich häufig: Nicht körperliche, sondern seelische Ursachen führen zu Schwindel.
„Schwindelerkrankungen sind weit verbreitet und treten in Deutschland ungefähr so häufig wie Kopfschmerzen auf“, sagt Prof. Annegret Eckhardt-Henn, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Bürgerhospital Stuttgart. Rund 12 Prozent aller Deutschen leiden ihr zufolge mindestens einmal in ihrem Leben unter Schwindel. „Davon sind rund 30 Prozent aller Schwindelformen psychischen Ursachen zuzuordnen.“
Das Wissen über diese sogenannten somatoformen Schwindelstörungen ist noch relativ neu: „Erst 1986 wurden Ängste und depressive Störungen als Schwindelauslöser erkannt“, sagt Prof. Michael Strupp, Leiter der Schwindelambulanz am Klinikum Großhadern in München.„Heute können wir diese Erkrankung sehr gut diagnostizieren und therapieren.“ Mehr als 11 000 Patienten haben die Münchner Schwindel-Ambulanz bereits aufgesucht, jeder fünfte von ihnen benennt psychische Hintergründe, „oft ohne sich selbst darüber bewusst zu sein“, sagt Strupp.
Meistens vergehen viele Jahre, bis Betroffenen die richtige Diagnose gestellt wird. Mal werden Blockaden an der Halswirbelsäule vermutet, mal Probleme mit dem Herz-Kreislauf-System oder Durchblutungsstörungen. „Die meisten Patienten mit somatoformem Schwindel rennen von Verdacht zu Verdacht, machen eine überflüssige Therapie nach der anderen und schlucken viele unnötige Medikamente“, sagt Mark Obermann, Leiter des Schwindel-Zentrums in Essen. Doch auf Dauer hilft nichts davon. „Die Angst, etwas wirklich Schlimmes zu haben, wächst unaufhaltsam.“ Und der Schwindel auch - manchmal so stark, dass Betroffene sich kaum noch trauen, das Haus zu verlassen.
„Am Anfang des Problems stehen Phobien, depressive oder dissoziative Störungen“, erläutert Eckhardt-Henn. Am häufigsten leiden die Betroffenen unter Ängsten vor öffentlichen Plätzen wie U-Bahnen, Bussen, Marktplätzen oder Kaufhäusern. „Es kann auch die Angst vor dem Rolltreppenfahren oder dem Kinobesuch sein, die den Schwindel auslöst.“ Während manche Phobiker in diesen Situationen verstärkt schwitzen oder zittern, setzt bei den Schwindelpatienten vor allem ein Gefühl des Schwankens und Wankens ein. „Der Schwindel wird dann als das vordergründliche Problem erlebt, nicht die Angst dahinter.“
Strupp erkennt in Schwindelpatienten oft ähnliche Charakterzüge: „Es sind sehr pflichtbewusste Menschen, die sehr darauf bedacht sind, sich im Griff zu haben.“ Mit der negativen Erfahrung des ersten Schwindels im Hinterkopf verstärkt sich langsam der Blick insInnere: „Betroffene haben eine sehr intensive Selbstwahrnehmung auf die Informationen des Gleichgewichtssinns“, erklärt er. Tatsächlich ist es so, dass alle Menschen leicht schwanken, niemand kann 100-prozentig gerade und unbeweglich stehen. Phobiker achten dabei jedoch so intensiv auf das eigene Gleichgewicht, dass sie jede kleine Schwankung registrieren und negativ bewerten. „Dadurch entsteht eine Selbstbeobachtungsspirale, die den Schwindel verstärkt und immer wieder reproduziert.“ Der Schwindel hat sich verselbstständigt.
Manche Patienten fühlen sich dabei benommen und schildern ein Gefühl wie unter einer Käseglocke, andere beschreiben ihren Schwindel wie das Schwanken auf einem Boot. Allen gemeinsam ist, dass der Schwindel aufhört, wenn die Patienten sehr konzentriert oder abgelenkt sind. Auch nach leichtem Alkoholgenuss hört der Schwindel meistens auf. „Alles, was von der Angst vor dem Schwindel ablenkt, senkt ihn auch“, erklärt Strupp.
Der erste Schritt in der Therapie ist deshalb Aufklärung, sagt Obermann. „Wenn die Patienten verstehen, was bei ihnen los ist, geht es ihnen meistens schon viel besser.“ Gezielt könne dann an den zugrundeliegenden Angstauslösern gearbeitet werden. „Die Patienten müssen bewusst die Situationen aufsuchen, die sie aufgrund des Schwindels vermeiden.“ Schritt für Schritt wird so die Spirale aus Angst und Schwindel wieder aufgelöst. In schwereren Fällen empfiehlt sich eine unterstützende Verhaltenstherapie.
„Betroffene leiden unter extremen Erwartungsängsten“, sagt Prof. Annegret Eckhardt-Henn vom Bürgerhospital Stuttgart. Durch die Sorge, erneut schwindlig zu werden, entstehe sofort Schwindel, beschreibt sie den Teufelskreis. „Das ist eine extrem große Belastung, die meistens zu starkem sozialem Rückzugsverhalten führt.“ Betroffene leiden zudem häufig unter Schlafstörungen und Konzentrationsschwierigkeiten. In schweren Fällen sei der Schwindel so massiv, dass die Betroffenen ihren Beruf nicht mehr ausüben können.
Quelle: dpa