Ständiges Händewaschen oder die dauernde Kontrolle, ob der Herd auch wirklich aus ist - Zwangserkrankungen können viele Gesichter haben. Doch nicht hinter jeder Marotte steckt gleich eine Störung. Der Übergang ist oft fließend, erklärt Torsten Grüttert, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Privatklinik Duisburg. Nicht jede scheinbar übertriebene und oft wiederholte Handlung muss als Zwanghaftigkeit behandelt werden. Für eine Zwangserkrankung spricht vielmehr, wenn Betroffene es selbst als quälend empfinden, etwas immer wieder tun zu müssen. Beim Versuch, es bleiben zu lassen, treten Angst und Anspannung auf. Zwanghafte Handlungen oder Gedanken halten zudem für mehr als zwei Wochen an, bestimmen täglich mehrere Stunden das Leben und beinträchtigen den Alltag erheblich.
Die Diagnose kann nur ein Therapeut stellen. Auch finden Menschen aus einer Zwangsstörung selten ohne professionelle Unterstützung wieder heraus. Helfen können eine Verhaltenstherapie, Entspannungsübungen, Achtsamkeitstraining, eine Selbsthilfe-Gruppe oder auch Medikamente.
Geschätzt bis zu 300.000 Menschen in Deutschland leiden allerdings unter einer Zwangserkrankung, die sich nicht mit Verhaltenstherapien oder Medikamenten behandeln lässt. Für einzelne dieser schwerst behandlungsresistenten Personen könnte eine Tiefe Hirnstimulation eine wirksame Therapie werden. Doch bislang finden nur wenige dieser Menschen den Weg bis zur Operation. Deshalb fordern Experten des Universitätsklinikums Freiburg gemeinsam mit weiteren internationalen Expert:innen einen besseren Zugang für Betroffene zu dieser Therapieform und machen Vorschläge machen, wie dies gelingen könnte (siehe Nature, online seit 15.7.2022).
Die Tiefe Hirnstimulation wird seit Jahrzehnten erfolgreich zur Behandlung von Parkinson-Patient:innen eingesetzt. Auch bei Depressionen können zum Teil sehr gute Erfolge erzielt werden. Bei der Tiefen Hirnstimulation werden haarfeine Elektroden in einen bestimmten Bereich des Gehirns geschoben. Über ein dünnes Kabel sind sie mit einer Batterie im Brustraum verbunden. Durch regelmäßige schwache elektrische Impulse können krankhafte Aktivitäten der Hirnregion reduziert und in einen normalen Zustand gebracht werden.
„Die Tiefe Hirnstimulation kann bei psychischen Erkrankungen sehr wirksam sein“, erklärt Prof. Dr. Volker A. Coenen, Ärztlicher Leiter der Abteilung Stereotaktische und Funktionelle Neurochirurgie der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Freiburg. Er war gemeinsam mit seinem Kollegen Prof. Dr. Thomas Schläpfer, Leiter der Abteilung für Interventionelle Biologische Psychiatrie der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg, an dem Nature-Artikel beteiligt.
Anders als bei der Parkinson-Erkrankung, wo die Tiefe Hirnstimulation inzwischen zum Standard der Behandlung bei fortgeschrittener Erkrankung gehört, sei diese Behandlungsform bei der Zwangserkrankung weitestgehend unbekannt. In Unkenntnis der Chancen und Ergebnisse ständen manche Menschen einer solchen Therapie oft auch ablehnend gegenüber.
Mögliche Gründe für diese mangelnde Akzeptanz werden im Artikel diskutiert: Historische Bedenken im Zusammenhang mit überholten psychochirugischen Verfahren, Skepsis aufgrund vermeintlich geringer wissenschaftlicher Evidenz, mangelnde Wahrnehmung unter Psychiater:innen und Psycholg:innen, Mangel an entsprechend qualifiziertem Personal für die Betreuung der Patient:innen, Einschränkungen in der Medizinprodukte-Zulassung, mangelhafte Kostenübernahme oder intransparente Entscheidungen durch Versicherungen, ungleiche Partnerschaften zwischen Industrie und Wissenschaft. „Für all diese Schwierigkeiten gibt es gute Lösungsvorschläge, die wir im Sinne der Patient:innen dringend angehen sollten“, meint Schläpfer.
„Eine spezialisierte Versorgung dieser Patient:innen gelingt, wenn sowohl Fachleute für die psychotherapeutische und medikamentöse Behandlung involviert sind wie auch ein spezialisiertes Team für Tiefe Hirnstimulation. Damit haben wir in Freiburg sehr gute Erfahrungen gemacht“, berichtet Prof. Dr. Dr. Katharina Domschke, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Freiburg. Sie ist Mitherausgeberin einer internationalen Leitlinie für die Behandlung der Zwangserkrankung, die auch die Tiefe Hirnstimulation mit einbezieht.
Im Mai 2022 hatten Schläpfer, Domschke und Coenen eine Studie zur Therapie von Zwangsstörungen mit der Tiefen Hirnstimulation veröffentlicht (siehe Brain Stimulation, online seit 26.3.2022). An dieser nahmen neun Patient:innen teil, die im Schnitt 23 Jahre unter der Krankheit litten, wobei andere Therapien erfolglos waren. Bei sieben Patient:innen wirkte die Therapie auch ein Jahr nach dem Eingriff noch deutlich.
Quelle: Pressemitteilung vom Uniklinikum Freiburg am 12.8.22 & dpa vom 11.8.22