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Hypochonder sind keine Simulanten - Sie haben große Ängste

Magendrücken. Da steckt bestimmt Magenkrebs hinter! Und diese Kopfschmerzen! Die können nur von einem Hirntumor kommen. Wenn solche Ängste überhand nehmen, steckt möglicherweise ein ernstes psychisches Problem dahinter: Hypochondrie. Die Beschwerden sind mitnichten Einbildung.

„Der schon wieder“ mag mancher Arzt denken, wenn ein Patient nach kurzer Zeit erneut mit unerklärlichen Beschwerden auftaucht. Klagte der Mann vergangene Woche noch über heftige Brustschmerzen und die Sorge, einen Herzinfarkt erlitten zu haben, sind es heute vielleicht Kopfschmerzen, die ihn einen Hirntumor befürchten lassen. Organisch fehlt ihm nichts, so viel steht fest. Ist er deshalb nur ein „eingebildeter Kranker“? Was auf den ersten Blick komisch anmuten mag, ist eine ernsthaftes Problem: Der Mann simuliert seine Beschwerden nicht, er hat sie tatsächlich. Und er hat massive Ängste - vor Krankheiten.Allerdings sind seine Beschwerden nicht lebensgefährlich, und jeder Gesunde würde sie als das abtun, was sie sind: normale körperliche Symptome, die jeder immer mal wieder an sich selbst beobachten kann.

Sorge um die eigene Gesundheit kann zwar überlebenswichtig sein. Doch wer unter Hypochondrie, also Krankheitsängsten leidet, neigt dazu, jedes noch so kleine Zipperlein als Vorboten einer schrecklichen Erkrankung zu interpretieren. Er „katastrophisiert“ sie, sagt Prof. Ute Habel von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Bei Hypochondern geht die Erklärung für die Beschwerden in die falsche Richtung, ergänzt Maria Gropalis vom Psychologischen Institut der Uni Mainz.„Und das macht sie immer ängstlicher.“ Arztbesuche dienen dann zwar der Beruhigung - aber nur der kurzfristigen. Denn bald kommen Zweifel an der Diagnose, dass alles in Ordnung ist, und die nächsten Beschwerden lösen neue Ängste aus - die nächsten Arztbesuche folgen. „Sie werden zur Sucht“, so Thomas Gärtner, Chefarzt der Schön Klinik Bad Arolsen für Psychosomatische Medizin. Irgendwann entsteht daraus ein Teufelskreis, der das Leben des Betroffenen dominiert und sein Verhalten immer mehr einengt.

Hypochondrie gehört zu den sogenannten somatoformen Störungen. Das bedeutet: körperliche Beschwerden ohne ausreichende organische Ursachen. Anfällig sind Menschen mit verschärfter Wahrnehmung und besonderer Wachsamkeit für den eigenen Körper, erläutert Gärtner. Oftmals spielten auch frühere eigene Krankheitserfahrungen oder Erkrankungen bei engen Bezugspersonen eine Rolle. „Sie haben standardmäßig ein hohes Erregungspotenzial“, ergänzt Habel, die an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uniklinik Aachen tätig ist. Sie seien nicht so entspannt wie andere Menschen, lauerten regelrecht auf jede körperliche Regung. Laut Gropalis haben sie Probleme, gut mit negativen Emotionen umgehen zu können. „Manchmal sind die Ängste auch Ausdruck hoher Stressbelastung.“

Wenn Betroffene in psychotherapeutische Behandlung kommen, ist ihnen oft die Bestätigung wichtig, dass sie „nicht verrückt“ sind, sagt Gärtner. Denn die Krankheitsangst ist recht beschwerlich, ergänzt Gropalis: „Der normale Krankheitsängstliche schämt sich eigentlich für seine Probleme.“ Auch das ist ein Grund, warum er mehrere verschiedene Ärzte aufsucht. Von „Ärzte-Hopping“ spricht Habel.

Doch bis Betroffene die richtige Therapie bekommen, vergehen oft bis zu zehn Jahre. Sie haben häufig eine Odyssee an Arztbesuchen und mitunter schmerzhafter Diagnoseverfahren hinter sich. Um ihre Ängste besser bewältigen zu können, müssen sie zunächst erkannt haben, dass es sich um eine psychische Störung handelt. „Wir stellen das rein somatische Konzept in Frage“, sagt Gärtner. „Sie sind krank, aber anders als sie denken.“ Es geht also um die Frage, wie sich körperliche Symptome noch erklären lassen außer durch eine lebensbedrohliche organische Ursache.

Behandelt wird die Störung mit einer kognitiven Verhaltenstherapie. Eine wichtige Rolle spielt die sogenannte kognitive Umstrukturierung. „Dabei arbeiten wir an den krankheitsbezogenen Überzeugungen“, erklärt Gärtner. Die Patienten müssten zur Einsicht kommen, dass es ganz normale Körperreaktionen gibt, ergänzt Habel. Sie nennt Beispiele: Ein Schwächeanfall etwa könne durch Stress ausgelöst worden sein und Freude zu Herzstolpern führen - jeweils auch mit gewissem zeitlichen Abstand.

Zum andern sollen die Patienten lernen, Ängste auszuhalten beziehungsweise Dinge in Relation zu sehen. Dazu erstellt Gropalis mit ihnen zum Beispiel eine Pro- und Contra-Liste: „Was spricht dafür, was dagegen, dass ich krank bin?“ So sollen „Fehlgewichtungen“ erkennbar werden. Und es werden Vereinbarungen getroffen, nicht jede Woche, sondern vielleicht nur jeden dritten Monat zum Arzt zu gehen. Auf diese Weise sollen die Arztbesuche von der Angst abgekoppelt werden.

„Im Gegensatz zu anderen Störungen ist der genetische Faktor bei Hypchondrie wahrscheinlich geringer“, sagt Gärtner zu den Ursachen. Umso entscheidender sind äußere Faktoren: Das können traumatische Erlebnisse wie der Tod eines nahe stehenden Menschen sein, ärztliche Fehldiagnosen oder das Lernen am Modell der Eltern, wenn die sehr übervorsichtig und ängstlich waren und immer gleich das Schlimmste befürchtet haben, erläutert Habel. Rückfälle sind zwar möglich und auch gar nicht so selten, wie Habel sagt. Doch wer wegen seiner Störung behandelt worden ist, hat in solchen Momenten Methoden zur Hand, um nicht wieder in den alten Teufelskreis zurückzufallen, sondern seine Angst wieder in den Griff zu bekommen. „Man kann dem Patienten die Angst nicht völlig nehmen, weil man ja nicht weiß, ob er nicht doch irgendwann schwer erkrankt“, sie. Angst sei eine starke Emotion, und die sei sehr schwer außer Kraft zu setzen.

Irgendwann in ihrem Leben haben die meisten Menschen mal eine hypochondrische Phase. Aber sie vergeht in den allermeisten Fällen wieder. Erst wer länger als sechs Monate unter anhaltenden, unbegründeten Krankheitsängsten leidet, gilt diagnostisch als Hypochonder. Schätzungen zufolge sind zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung betroffen, Männer wie Frauen. Von denjenigen, die in Therapie waren, bleiben höchstens 5 Prozent dauerhaft symptomfrei, aber 33 Prozent zeigen signifikante Verbesserungen.

Quelle: dpa