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Ritzen - Abbau innerer Spannung bei psychischen Problemen

Für viele mag das unvorstellbar sein, dennoch kommen Selbstverletzungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer wieder vor.

Zuerst kneift man sich vielleicht nur in den Arm oder schlägt mit der Faust an die Wand. Doch irgendwann reicht das nicht mehr, um die große innere Spannung abzubauen - und man ritzt sich mit einem Messer in den Unterarm. Für viele mag das unvorstellbar sein, dennoch kommen Selbstverletzungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer wieder vor.

Wie viele Menschen davon betroffen sind, ist nicht genau erfasst. Eine größere Studie der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Heidelberg ergab jedoch vor einigen Monaten, dass sich rund ein Drittel aller Schülerinnen zwischen 14 und 16 Jahren im Rhein-Neckar-Kreis schon einmal absichtlich eine Schnittverletzung zugefügt hat. Etwa 18 Prozent der Schülerinnen und 8 Prozent der Schüler tun dies demnach häufiger.

„Unter selbstverletzendem Verhalten wird das absichtliche Zufügen von äußerlichen Wunden verstanden“, erklärt der Psychiater Michael Armbrust, Chefarzt der Schön Klinik Bad Bramstedt (Schleswig-Holstein) und langjähriger Experte auf dem Gebiet der Persönlichkeitsstörungen. Dazu gehörten zum Beispiel Schnitte mit dem Messer oder anderen Klingen, Verletzungen mit einem heißen Bügeleisen oder das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut. „Dabei werden meist die Arme und Beine verletzt.“

Warum aber tun das Mädchen und Jungen? „Das kann verschiedene Ursachen haben“, berichtet Inka Saldecki-Bleck, Vorstandsmitglied der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen. Meist spiele eine depressive Entwicklung eine wichtige Rolle. „Oft liegt es an Störungen in der Kindheit.“ Es könne zum Beispiel sein, dass jemand als Kind abgelehnt wurde, wenig Liebe erfahren hat und so kaum ein Selbstwertgefühl entwickeln konnte.

„Auch ein traumatisches Erlebnis kann eine Ursache sein“, sagt die Psychologin. Beispiele sind sexueller oder emotionaler Missbrauch, eine schlimme Scheidung der Eltern oder der frühe Tod eines Elternteils. „Dinge wie diese können unter anderem dazu führen, dass man innerlich wütend ist, viel mit sich machen lässt und sich nicht durchsetzen kann.“ Dadurch kann sich Spannung aufbauen, die irgendwie raus muss.

„Betroffene berichten, dass sie durch das Ritzen oder anderes selbstverletzendes Verhalten Spannung und inneren Druck abbauen können“, sagt der Mediziner Armbrust. Außerdem hätten viele Betroffene das Gefühl, neben sich zu stehen, sich und ihr Leben von außen zu beobachten - ein Gefühl von Taubheit und gewisser Leere. „Sie berichten, dass sie sich durch das Ritzen wieder spüren und lebendig fühlen.“

Eine wirkliche Hilfe ist das selbstverletzende Verhalten natürlich nicht. Denn die eigentlichen Probleme verschwinden damit nicht. Besser ist es, sich jemandem anzuvertrauen - und professionelle Hilfe zu holen. „Man muss sich für dieses Verhalten nicht schämen“, betont Expertin Saldecki-Bleck. „Es ist besser, sich Hilfe zu suchen, als das alles mit sich selber abmachen zu wollen.“ Zum Beispiel könnten Kinder- und Jugendberatungsstellen, Kinder- und Jugendpsychiater oder -psychotherapeuten oder spezielle Ambulanzen erste Anlaufstellen sein.

Gute Hilfe gibt es auch in vielen Kliniken. „Wir können zum Beispiel Medikamente geben, um die unerträgliche Spannung abzubauen“, sagt Armbrust. „Das kann schon sehr schnell helfen.“ Noch besser ist jedoch eine spezielle Therapie, die häufig stationär in einem Krankenhaus erfolgt. „Dabei lernen die Patienten, mit dem selbstverletzenden Verhalten aufzuhören.“ Viele der Betroffenen ritzten sich nach vier bis sechs Wochen nicht mehr.

Als Ersatz könne dabei ein Verhalten dienen, das einen ähnlichen Effekt zum Spannungsabbau hat, aber deutlich weniger schädlich ist, zum Beispiel kaltes Duschen oder eine Chilischote essen. „Außerdem trainieren wir in einer Verhaltenstherapie, wie man mit seinen Problemen anders umgehen kann.“ Dafür muss man aber Geduldmitbringen: „Nach etwa zwei Jahren spüren viele Patienten eine deutliche Besserung und Linderung.“

Freunde aufs Ritzen ansprechen

Was kann man tun, wenn man bei einem Freund selbst zugefügte Verletzungen sieht? Es könne zwar sein, dass eine direkte Ansprache eher auf Abwehr stoße, sagt Marthe Anna Kniep, Leiterin des Dr.-Sommer-Teams der Bravo-Redaktion in München. «Es ist aber völlig okay zu sagen: Ich hab gesehen, dass Du dich ritzt. Wenn du Probleme hast, dann sprich doch mal mit jemandem darüber. Ich mach mir nämlich Sorgen um Dich.» Seine Entdeckung einer dritten Person anzuvertrauen, hält sie ebenfalls für legitim. «Denn für Mitwisser wiegt dieses Geheimnis zu schwer», so Kniep.

Studie der Uni Heidelberg: dpaq.de/VkWUk